Wie einzelne, gewöhnliche Juden gegen die Verfolgung durch die Nazis kämpften – eine neue Sicht auf die Geschichte

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Oct 22, 2023

Wie einzelne, gewöhnliche Juden gegen die Verfolgung durch die Nazis kämpften – eine neue Sicht auf die Geschichte

Im nationalsozialistischen Deutschland leistete Hertha Reis, eine 36-jährige Jüdin, während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeit für ein Privatunternehmen in Berlin. 1941 wurde sie von einem Richter aus den beiden Untermietzimmern vertrieben

Im nationalsozialistischen Deutschland leistete Hertha Reis, eine 36-jährige Jüdin, während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeit für ein Privatunternehmen in Berlin. 1941 wurde sie von einem Richter aus den beiden Untermietzimmern, in denen sie mit ihrem Sohn und ihrer Mutter lebte, vertrieben – aufgrund eines judenfeindlichen Gesetzes war sie als Mieterin schutzlos.

Bei Tageslicht protestierte sie vor dem Gerichtsgebäude im Herzen der Nazi-Hauptstadt vor Passanten.

„Wir haben alles verloren. Durch diese verfluchte Regierung haben auch wir letztendlich unser Zuhause verloren. Dieser Verbrecher Hitler, diese verdammte Regierung, diese verdammten Leute“, sagte sie. „Nur weil wir Juden sind, werden wir diskriminiert.“

Historiker wussten natürlich von heimlichen Widerstandshandlungen und vom Widerstand bewaffneter Gruppen wie dem Aufstand im Warschauer Ghetto. Doch im bisher vorherrschenden Verständnis der NS-Zeit schien es gerade für die Juden undenkbar, sich als Einzelner öffentlich gegen die Judenverfolgung auszusprechen.

Doch im Juli 2008 stieß ich im Logbuch eines Berliner Polizeireviers auf die erste Spur solcher öffentlicher Widerstandshandlungen, einer der wenigen Chroniken dieser Art, die im Landesarchiv Berlin erhalten blieben.

Der Eintrag mit der Bezeichnung „politischer Vorfall“ wurde von einem Polizisten verfasst, der einen jüdischen Mann festgenommen hatte, der gegen die antijüdische Politik der Nazis protestierte. Zum Zeitpunkt der Entdeckung hatte ich mich fast 20 Jahre lang intensiv mit der Verfolgung der deutschen Juden beschäftigt, aber von so etwas hatte ich noch nie gehört.

Fasziniert begann ich mit der Recherche. Als ich später immer mehr ähnliche Widerstandsgeschichten in Gerichtsakten und Zeugenaussagen von Überlebenden fand, begann ich, meine etablierten wissenschaftlichen Überzeugungen zu erschüttern.

Historiker, darunter auch ich, hatten schon lange ein Bild der Passivität der Verfolgten gezeichnet. Als die Diskriminierung im nationalsozialistischen Deutschland allmählich zunahm, passten sich die Juden langsam an, so die Argumentation. Generell gilt auch heute noch die Annahme, dass Widerstand, insbesondere individueller Protest, in autoritären Regimen selten vorkommt.

Die erstaunlichen Beweise aus den Berliner Polizeiakten haben mich persönlich sehr berührt. Ich bin hinter dem Eisernen Vorhang in Ostdeutschland aufgewachsen. Das kommunistische Regime verfolgte selbst leichte Äußerungen individueller Opposition als Drohungen. Diese persönliche Erfahrung, bis zu meinem 28. Lebensjahr in einer Diktatur zu leben, hat mir eine ausgeprägte Sensibilität verliehen, die es mir ermöglichte, alltägliche Formen des Widerstands zu erkennen.

Wie viel ernster muss das Hitler-Regime angesichts der historischen Erkenntnis, dass die Behandlung der politischen Opposition im nationalsozialistischen Deutschland so viel brutaler war, die Anzeichen von Widerstand seitens seines Rassefeindes Nr. 1, der Juden, wahrgenommen haben?

Dennoch verstehen die Öffentlichkeit und viele Wissenschaftler den jüdischen Widerstand während des Holocaust heute meist als seltene Aktivitäten bewaffneter Gruppen im von den Nazis besetzten Osten, beispielsweise Ghettoaufstände oder Partisanenangriffe.

Durch die Einbeziehung einzelner Taten und damit die Erweiterung der traditionellen Definition des jüdischen Widerstands konnte ich in über einem Dutzend Jahren systematischer Forschung viele neue Quellen zutage fördern – von Polizei- und Gerichtsakten verschiedener deutscher Städte bis hin zu Videoaussagen von Überlebenden –, die Folgendes dokumentierten: Es gab ein viel größeres Volumen und eine viel größere Vielfalt an Widerstandsaktionen, als man sich jemals hätte vorstellen können.

Die erstaunlichen Ergebnisse verändern die Sicht auf den jüdischen Widerstand im Zweiten Weltkrieg dramatisch. Die Geschichte von Hertha Reis und viele andere wirkungsvolle Geschichten über individuellen Trotz und Mut widersprechen dem weit verbreiteten Missverständnis, dass Juden während des Holocaust wie Schafe zur Schlachtbank geführt wurden.

Bei der Suche im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden bin ich auf die Geschichte von Hans Oppenheimer gestoßen. Im Jahr 1940 verließ er wochenlang jede Nacht sein vierstöckiges Wohnhaus und brach damit die Ausgangssperre für Juden. Kein einziges Licht erleuchtete die Straße vor ihm. Die Stadt Frankfurt hatte einen Brownout angeordnet, um sie vor alliierten Luftangriffen zu schützen.

Ein paar Blocks von seinem Haus entfernt versteckte sich Hans in einer Tür. Mit der ganzen Stadt wartete Hans gespannt auf den Fall der Bomben.

Als 17-Jähriger verfolgt, weil er Jude war, hatte Hans bereits anderthalb Jahre als Zwangsarbeiter gearbeitet und zuletzt täglich zehn Stunden lang Steine ​​und Zementsäcke von Binnenschiffen abgeladen. Er verdiente nur ein paar Cent und fühlte sich ständig belästigt.

Hans war noch nie in einem Kino oder Theaterstück gewesen, denn das war für Juden in Frankfurt verboten. Als jüdischer Jugendlicher sah er im nationalsozialistischen Deutschland keine Zukunft. Da der Krieg ihn daran hinderte, das Land zu verlassen, hatte er beschlossen, etwas zu unternehmen.

Jede Nacht wartete er ängstlich und aufgeregt im Dunkeln. Als die Sirenen zu heulen begannen und die Annäherung der alliierten Bomber ankündigten, löste Hans Feuermelder aus, um die deutschen Feuerwehrleute von den eigentlichen Bombardierungsstellen abzulenken. Im Dezember 1940, nachdem er Dutzende Fehlalarme ausgelöst hatte, gelingt es der Polizei schließlich, Hans auf frischer Tat zu ertappen.

Die Frankfurter Staatsanwaltschaft erhob Anklage gegen Hans Oppenheimer und stellte ihn vor Gericht. Da das Gericht keinen Hochverrat nachweisen konnte, erhielt der heute 18-Jährige wegen Sabotage der Kriegsanstrengungen nur drei Jahre Gefängnis.

Hans war eingesperrt und isoliert und litt unter schweren Depressionen und körperlicher Schwäche. Als die Gefängnisbeamten nicht auf seine wiederholten Beschwerden reagierten, versuchte der junge Mann zweimal, sich das Leben zu nehmen. Ende 1942 deportierte die Gestapo alle jüdischen Gefängnisinsassen aus Deutschland nach Auschwitz. Aufgrund seiner geschwächten Verfassung überlebte Hans Oppenheimer dort nicht lange. Er starb am 30. Januar 1943, nur wenige Tage nachdem er 20 Jahre alt geworden war.

Bis heute vergessen, leisteten zwischen 1933 und 1945 Hunderte und Aberhunderte jüdischer Frauen und Männer im eigentlichen Nazi-Deutschland individuelle Widerstandshandlungen. Viele ihrer Geschichten präsentiere ich in meinem neuen Buch „Resisters. Wie gewöhnliche Juden in Hitlerdeutschland gegen die Verfolgung kämpften.“

Sie zerstörten NS-Symbole, protestierten öffentlich gegen die Verfolgung, missachteten NS-Gesetze und örtliche Beschränkungen und wehrten sich sowohl gegen verbale Beleidigungen als auch gegen körperliche Angriffe.

Erstaunlicherweise leisteten Juden aller Altersgruppen, Bildungshintergründe und Berufe in vielerlei Hinsicht Widerstand. Manche machten es wiederholt, andere nur einmal. Die Tatsache, dass so viele Deutsche und Österreicher einzeln Widerstand gegen die Nazis und ihre Politik leisteten, löscht das weitverbreitete Missverständnis der Passivität der verfolgten Juden aus.

Stattdessen liefern solche weit verbreiteten individuellen Widerstandshandlungen während des Zweiten Weltkriegs eine neue Sicht auf die Geschichte: dass Juden im Kampf gegen die Verfolgung durch die Nazis Entschlossenheit bewiesen haben. Und dies wiederum zeigt, dass individueller Widerstand selbst unter den schlimmsten völkermörderischen Umständen möglich ist.

Wolf Gruner, Shapell-Guerin-Lehrstuhl für Jüdische Studien und Professor für Geschichte; Gründungsdirektor, USC Dornsife Center for Advanced Genocide Research, USC Dornsife College of Letters, Arts and Sciences

Dieser Artikel wurde von The Conversation unter einer Creative Commons-Lizenz erneut veröffentlicht. Lesen Sie den Originalartikel.

Wolf Gruner